„Die digitale Transformation macht vor keinem unserer Prozesse Halt“
„Die digitale Transformation macht vor keinem unserer Prozesse Halt“
Prof. Dr. Frank Walthes ist seit 2012 Vorsitzender des Vorstands des Konzerns Versicherungskammer und Honorarprofessor für strategische Transformation in der Finanzdienstleistung an der Universität der Bundeswehr München. Darüber hinaus engagiert er sich seit 2016 als Vorstandsvorsitzender des deutschen Berufsbildungswerks der Versicherungswirtschaft in München e.V.
Der Konzern Versicherungskammer ist bundesweit der größte öffentliche Versicherer und befindet sich unter den Top 10 der Erstversicherer in Deutschland. Mit seinen regional tätigen Gesellschaften ist das Unternehmen in Bayern, der Pfalz, im Saarland sowie in Berlin und Brandenburg tätig. Der Krankenversicherer der S-Finanzgruppe ist zusammen mit den anderen öffentlichen Versicherern bundesweit tätig. Von großer Bedeutung ist das gesellschaftliche Engagement des Konzerns Versicherungskammer.
Die auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Strategie der Förderung ehrenamtlicher Einrichtungen und Initiativen, die insbesondere im Bereich der Prävention und Sicherheit tätig sind, wird seit einigen Jahren zusätzlich gestärkt durch die beiden Stiftungen, VersicherungskammerStiftung und Versicherungskammer-Kulturstiftung. Zudem ist der Konzern Versicherungskammer mit dem Zertifikat „Beruf und Familie“ als familienfreundliches Unternehmen ausgezeichnet. Er hat rund 7.500 Beschäftigte, davon rund 340 Auszubildende
Einer der zentralen Treiber der digitalen Transformation ist die Herausforderung durch den demographischen Wandel.
„Deshalb benötigen wir das implizite und explizite Wissen, das in neuen kollaborativen Arbeitsweisen des Smart Working genutzt und geteilt wird, »
unterstreicht Prof. Dr. Walthes. Die Fähigkeit, große Datenmengen zu analysieren und daraus Erkenntnisse abzuleiten,
wird zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor. Künstliche Intelligenz spielt dabei eine zentrale Rolle.
Dr. Martin Seibold: Herr Professor Walthes, was waren die wichtigsten technologischen Entwicklungen für die Versicherungsbranche in den letzten 25 Jahren und welche Bedeutung hatten sie für das Geschäft der Versicherungskammer?
Prof. Dr. Frank Walthes: In den vergangenen 25 Jahren hat die digitale Transformation unsere Branche grundlegend verändert und dabei auch die Versicherungskammer maßgeblich geprägt. Ich erinnere mich an die Internet-Bubble in den 2000er Jahren (1) und die damit verbundene Digitalisierung der Prozesse in der Versicherungswirtschaft. Seitdem arbeiten wir crossfunktional, interdisziplinär und hierarchieübergreifend auf allen Ebenen im Unternehmen betreffend Anwendung, Prozesse und Strukturen. 2014 haben wir ein umfassendes Programm zur Digitalisierung gestartet – mit dem Ziel, unsere internen Prozesse zu optimieren und somit die Effizienz in allen Arbeitsbereichen zu steigern. Ein Fokus lag von Beginn an auf der Weiterentwicklung unseres Kundenmanagements: So haben wir beispielsweise bereits vor zehn Jahren IBM Watson zur Emotionserkennung in der Kundenkorrespondenz eingesetzt.
Ein weiterer wichtiger Schritt war die Gründung des "Innovation Campus" im Jahr 2018: Ein internes Pitchverfahren ermöglicht es, innovative Ideen aus den Fachbereichen und dem Kreis unserer Mitarbeitenden schnell zu evaluieren und umzusetzen. Parallel dazu generiert auch ein konzerneigenes Forschungslabor Ideen und treibt die Umsetzung der Use Cases bis hin zu einem fertigen Prototyp bzw. Minimum Viable Product (MVP) voran. So haben wir heute unter der Marke „go. Innovation für alle“ eine konzernweite Innovationskultur als Grundlage für Veränderungen etabliert. Ein konkretes Beispiel für eine richtungsweisende technische Entwicklung ist u.a. unsere Tarifierungsmaschine in der Cloud, die die Tarifentwicklung insbesondere in der Kfz-Sparte erheblich optimiert hat und uns erlaubt, viel schneller auf Marktanforderungen zu reagieren. Auch in der Schadenregulierung haben wir durch technische Innovationen bedeutende Fortschritte gemacht, etwa durch den Einsatz von Drohnen in der Gebäudeversicherung oder digitale Lösungen im Agrarbereich.
Dr. Martin Seibold: Warum ist es heutzutage wichtiger denn je, in Digitalisierung zu investieren?
Prof. Dr. Frank Walthes: Bereits Ludwig Erhard (2) sah den technischen Fortschritt - durch die Kreativität und Ideenvielfalt des menschlichen Geistes vorangetrieben - als einen entscheidenden Faktor für wirtschaftlichen Erfolg an. Übertragen wir diese Sichtweise auf heute, dann sehen wir deutlich die Notwendigkeit, in digitale Innovationen zu investieren: um wettbewerbsfähig zu bleiben und zukunftsfähige Lösungen zu entwickeln, sowohl im Hinblick auf die Kundenbedürfnisse als auch aus ökonomischen Gesichtspunkten. Der spürbare demographische Wandel macht es dringend erforderlich, den arbeitsplatztechnischen Fortschritt durch Digitalisierung zu nutzen, weil wir die ausscheidenden Babyboomer nicht mehr 1:1 ersetzen können.
Auch deshalb benötigen wir das implizite und explizite Wissen, das in neuen kollaborativen Arbeitsweisen des Smart Working genutzt und geteilt wird. Für uns steht gleichwohl nicht nur der Innovationsgeist innerhalb der Versicherungskammer im Fokus: Seit der Mitgründung des InsurTech Hub Munich im Jahr 2017 engagieren wir uns intensiv für die gemeinsame Gestaltung der digitalen Transformation in der Versicherungsbranche am Standort München, indem wir die Zusammenarbeit mit Technologieunternehmen, Start-ups, Universitäten und Investoren fördern, um unsere Branche durch wirkungsvolle Innovationen zukunftssicher zu machen.
„Der demographische Wandel macht es erforderlich, den Fortschritt durch Digitalisierung zu nutzen.“
Dr. Martin Seibold: Das klingt nach einem sehr innovationsfreudigen, nutzenorientierten Ansatz! Kommen wir auf aktuelle Herausforderungen zu sprechen: Die Welt steht vor zahlreichen geopolitischen, wirtschaftlichen und ökologischen Aufgaben. Welche halten Sie aus Sicht der Versicherungskammer für die wichtigsten und wie gehen Sie diese an?
Prof. Dr. Frank Walthes: So viel Wandel gleichzeitig hat die Welt tatsächlich lange nicht mehr gesehen! Lassen Sie mich einige Punkte exemplarisch herausgreifen: Geopolitisch steht für mich die Notwendigkeit einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur im Vordergrund. Europa muss stark genug sein, sich auch allein bzw. im Verbund mit freiheitlich-demokratischen Ländern zu behaupten und zu verteidigen. Nicht minder herausfordernd sind die Erfordernisse, die der fortschreitende Klimawandel an uns stellt, wie etwa einen verlässlichen Hochwasserschutz und Präventivmaßnahmen hinsichtlich zunehmender weiterer Extremwetterereignisse. Deshalb unterstützen wir ausdrücklich die Vorschläge der künftigen Bundesregierung, für die nächste Dekade ausreichend finanzielle Investitionsmittel in Infrastruktur, Sicherheit und Klimafolgen bereitzustellen. Schließlich brauchen wir regulatorische Anpassungen, weil wir im Rahmen der Regulatorik einen exponentiellen Anstieg in der letzten Dekade gesehen haben. Um nur einige der Bürokratiemonster zu nennen (DORA, Solvency etc.). Hier setzen wir auf effektive Compliance-Management-Systeme und die Zusammenarbeit mit den Regulierungsbehörden. Unser Ziel ist es, Bürokratie abzubauen und gleichzeitig die gesetzlichen Vorgaben einzuhalten.
Dr. Martin Seibold: Lassen Sie uns einen Blick in die Zukunft werfen: Welche Veränderungen werden die Versicherungsbranche in den nächsten 25 Jahren am stärksten beeinflussen, und was erwarten Sie für das zukünftige Geschäft der Versicherungskammer?
Prof. Dr. Frank Walthes: Künstliche Intelligenz und Automatisierung werden weiterhin eine zentrale Rolle spielen, da die Fähigkeit, große Datenmengen zu analysieren und daraus Erkenntnisse abzuleiten, der entscheidende Wettbewerbsfaktor ist und bleiben wird. Die aktuellen massiven geopolitischen Umwälzungen werden bei der Kapitalanlage verschiedentlich zu einer anderen Allokation und Diversifikation führen als wir das bisher kennen. Schließlich wird die gesamtgesellschaftliche und gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland davon geprägt sein, wie gut es uns gelingen wird, den demografischen Wandel zu gestalten und unsere Sozialsysteme zu reformieren. Die Bedürfnisse der Älteren als größte Bevölkerungsgruppe werden zunehmend in den Fokus des gesellschaftlichen und politischen Handelns rücken. Insofern ist eine stärkere Kapitaldeckung bei Gesundheit, Pflege und Rente die einzige realistische Möglichkeit, sowohl zur notwendigen finanziellen Entlastung der jüngeren Generationen wie für die Stabilisierung unserer Sozialsysteme. Gerade die Assekuranz kann hier verlässliche Lösungen anbieten.
Dr. Martin Seibold: Die Versicherungskammer war ein Vorreiter beim Einsatz von KI in der Versicherungswelt. Ist dies auch künftig Ihre Ambition? Welche Rolle werden technologische Entwicklungen wie KI, IoT, Quantencomputer etc. für die Zukunft der Versicherung spielen?
Prof. Dr. Frank Walthes: Technologie wird auch in Zukunft eine Schlüsselrolle für jegliche Innovationsfähigkeit spielen. Derzeit nutzen wir KI bereits im Schadenmanagement und im Risikomanagement, um datengetriebene Entscheidungen zu treffen. Selbstverständlich nutzen wir auch bereits ein Unternehmens-GPT als sichere, eigene KI-Lösung. Parallel dazu, entwickeln wir einen intelligenten Wissensassistenten: Der Chatbot nutzt ein hochentwickeltes Sprachmodell, um innerhalb unseres Wissensmanagementsystems VKBrain relevante Informationen direkt aus Dokumenten zu extrahieren, in natürlicher Sprache, inklusive Quellenverlinkungen. Die digitale Transformation macht vor keinem unserer Prozesse Halt und spielt auch in unseren Kundenservices eine immer wichtigere Rolle, genannt seien hier zum Beispiel ergänzende digitale Gesundheitsservices für unsere Krankenversicherten, KI-gesteuerter Leckageschutz in der Schadenprävention und Optionen zu Echtzeitrisikoüberwachung und Big Data-Analysen dank IoT.
Dr. Martin Seibold: Wir sehen derzeit verstärkte Konsolidierungstendenzen im deutschen Versicherungsmarkt, von Bestandsübertragungen bis zu Fusionen. Welche Entwicklungen erwarten Sie in den kommenden Jahren, und welche Rolle wird die Versicherungskammer dabei spielen?
Prof. Dr. Frank Walthes: Wir beobachten hier gerade eine verstärkte Tendenz zur Konsolidierung im deutschen Assekuranzmarkt und sehen die Opportunitäten durchaus zunehmen. Dabei halten wir Augen und Ohren offen, sind durchaus interessiert und handlungsfähig, entscheiden aber nur auf Basis genauer Prüfung, ob und wann wir bindende Angebote abgeben.
(1) Zu Beginn der 2000er Jahre kam es nach einem Internetboom mit hohen Investitionen in sogenannte Dotcom-Unternehmen zu einem massiven Einbruch der Kapitalmärkte.
(2) Ludwig Erhard war ein westdeutscher Wirtschaftspolitiker in den 1950er und 1960er Jahren.