“Versicherungsunternehmen können enorm von KI profitieren. Die Ambitionen sollten jedoch nicht über die realen Möglichkeiten der Technologie hinausgehen. ”
“Versicherungsunternehmen können enorm von KI profitieren. Die Ambitionen sollten jedoch nicht über die realen Möglichkeiten der Technologie hinausgehen. ”
Marcus Ryu ist ein erfahrener Technologieunternehmer, Risikokapitalgeber und Vorstandsmitglied mit über zwei Jahrzehnten Erfahrung im Aufbau und der Beratung von wachstumsstarken Softwareunternehmen. Er ist vor allem als Mitbegründer und ehemaliger CEO von Guidewire Software bekannt, dass er 2001 mitbegründete und 2012 an die Börse brachte, bis es zu einem weltweit führenden Unternehmen mit einem Umsatz von über 1 Milliarde US-Dollar und einem Spitzenmarktwert von 20 Milliarden US-Dollar wurde.
Derzeit ist Marcus Ryu General Partner bei Battery Ventures und verantwortet Investitionen in den Bereichen Unternehmenssoftware, vertikale SaaS/KI und Fintech/Insurtech. Er ist außerdem Mitglied des Vorstands von Unternehmen wie Checkr, Bloomreach, Bestow, hyperexponential, Coram AI, Liberate und Guidewire und berät innovative Start-ups wie Vesta Technologies und KAV.

Die Versicherungsbranche entwickelt sich von der rückblickenden Analyse hin zur zukunftsorientierten Risikovorhersage. Versicherungsmathematiker entwickeln sich zunehmend zu Programmierern, die KI, IoT und fortschrittliche Daten nutzen, um Verluste zu antizipieren und zu verhindern. Strategische Klarheit und tiefes Verständnis für die Komplexität der Branche sind unerlässlich, da Versicherer mit steigenden Erwartungen an Agilität und Innovation konfrontiert werden. Langfristiger Erfolg erfordertwiderstandsfähige Organisationen, die Angleichung von Werten und der Bereitstellung von Software, die den besonderen betrieblichen Anforderungen der Branche gerecht wird.
Michał Trochimczuk: Die letzten 25 Jahre: Was waren die wichtigsten technologischen Entwicklungen für die Versicherungsbranche in den letzten 25 Jahren und welche Bedeutung hatten sie für Ihre Projekte?
Marcus Ryu: Eine wichtige Entwicklung war die Weiterentwicklung der Programmiersprachen, insbesondere hinsichtlich der Abbildung der Geschäftslogik. Selbst ohne KI-Codierungsagenten ist das Programmieren heute viel einfacher als vor Jahren mit Assemblersprache. Anwendungen sind wesentlich verständlicher und wartungsfreundlicher geworden.
Maschinelles Lernen ist dank immenser Rechenkapazitäten ebenfalls unglaublich leistungsfähig geworden – weit über das hinaus, was man sich vor 25 Jahren hätte vorstellen können. Dies ist besonders relevant für die Versicherungsbranche, in der es im Kernum die Vorhersage von Verlusten geht.
Künstliche Intelligenz ist nur ein Aspekt dieser umfassenden Transformation.
Eine weitere wichtige Entwicklung ist die Machine-to-Machine-Konnektivität, die den kostengünstigen Datenaustausch zwischen Systemen ermöglicht. Heute ist dies selbstverständlich, vor 25 Jahren war es jedoch eher eine Vision als Wirklichkeit.
Auch mobile Geräte sind mittlerweile weit verbreitet. Ihr Einfluss auf die Versicherungsbranche bleibt jedoch im Vergleich zu anderen Sektoren relativ begrenzt.
Michał Trochimczuk: Aktuelle Herausforderungen: Die Welt steht derzeit vor zahlreichen geopolitischen, wirtschaftlichen und ökologischen Herausforderungen. Welche davon sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten? Wie gehen Sie damit um?
Marcus Ryu: Wir stehen vor einer neuen Art von Fragilität.
Lange Zeit glaubten wir, dass die barbarische Vergangenheit – geprägt von Kriegen, Konflikten, Kommunismus und Faschismus – hinter uns liegt. Es schien offensichtlich und unbestreitbar, dass diese Zeiten vorbei waren. Aber jetzt ist diese Gewissheit verschwunden. Die Grundprinzipien, auf die wir uns verlassen haben, beginnen zu bröckeln.
Dieser Wandel hängt eng mit dem zusammen, was ich als einen erschöpfenden und vielleicht unlösbaren Kulturkampf betrachte. Und das beunruhigt mich am meisten – nicht nur als Unternehmer, sondern auch als Vater und Ehemann.
Als Reaktion darauf fordere ich die Organisationen, in denen ich tätig bin, dazu auf, unabhängig von den Turbulenzen um uns herum nach der Wahrheit zu suchen.
Michał Trochimczuk: Die nächsten 25 Jahre: Welche Veränderungen werden in Zukunft den größten Einfluss auf die Versicherungsbranche haben? Was erwarten Sie für Ihre Projekte? Welche Rolle werden technologische Entwicklungen wie KI, IoT, Quantencomputer usw. spielen?
Marcus Ryu: Marcus Ryu: In Zukunft werden sich Versicherungsmathematiker und Underwriter stärkerauf die Zukunft als auf die Vergangenheit konzentrieren. Ihre Rolle wird sich zu einer computergestützten Analyse entwickeln, was bedeutet, dass sie zunehmen als Datenwissenschaftler und Entwickler agieren müssen.
Unternehmen, die diesen Wandel meistern, werden einen erheblichen Vorteil haben. Die Fähigkeiten und Fertigkeiten, diese Veränderungen erfolgreich zu gestalten, werden immer wichtiger werden.
Eine weitere große Veränderung wird sich darin zeigen, wie Versicherer Risiken identifizieren und Verluste verhindern. Mit der zunehmenden Verfügbarkeit von Daten und Sensoren gibt es viel mehr Informationen, die genutzt werden können, um Menschen frühzeitig zu warnen und bei der Vorsorge zu unterstützen. Dies eröffnet neue Möglichkeiten für ein proaktives Risikomanagement.
Um dies verdeutlichen: Die in Banken verwendeten Kreditbewertungssysteme sind im Vergleich zur Komplexität der versicherungsmathematischen Modellierung recht einfach.
Michał Trochimczuk: Auswirkungen generativer KI: KI und generative Technologien entwickeln sich rasant weiter. Wie wirken sich diese Ihrer Meinung nach auf das Underwriting, die Schadenbearbeitung und den Kundenservice aus – und wie sollten Versicherer ihre Einführung priorisieren?
Marcus Ryu: KI reduziert bereits heute Reibungsverluste in Bereichen, die traditionell stark auf Menschen und manuelle Prozesse angewiesen waren. Ihre größte Stärke liegt in der Übersetzung. Meine Mutter war Koreanisch-Englisch-Übersetzerin, und heute sind solche Dienstleistungen kostenlos verfügbar.
KI überbrückt Unterschiede in Sprache, Datenformaten und Systemen und reduziert so semantische Hindernisse vieler verschiedener Art. Während Versicherer früher mit unstrukturierten Daten zu kämpfen hatten, kann KI diese nun strukturieren, sodass Systeme dank KI-gestützter semantischer Vermittlung miteinanderkommunizieren können.
Ich glaube nicht, dass KI direkt zur Heilung von Krankheiten wie Krebs beitragen wird – zumindest nicht in absehbarer Zeit. Im Versicherungsbereich hingegen ist ihr Nutzen bereits heute deutlich spürbar. Die Hälfte des Aufwands für die Implementierung von Guidewire entfällt beispielsweise auf Systemintegrationen. KI hat das Potenzial, dies erheblich zu vereinfachen. Sie ermöglicht es Versicherern, die Bedürfnisse ihrer Kunden in Echtzeit zu verstehen und diese Bedürfnisse direkt mit Backend-Systemen zu verknüpfen. Dies verbessert nicht nur die Effizienz, sondern schafft auch ein weitaus besseres Kundenerlebnis – eines, das mit der Zeit sogar empathische Züge annehmen könnte.
Letztendlich eröffnet KI die Möglichkeit einer nahtlosen Omni-Channel-Interaktion. Ein Ziel, das Versicherer seit Langem anstreben, aber nur schwer erreichen können. Darin sehe ich den unmittelbarsten und tiefgreifendsten Wandel.
Michał Trochimczuk:Welche Faktoren haben Guidewire erfolgreich gemacht?
Marcus Ryu: Der Erfolg von Guidewire beruht auf drei Grundprinzipien: konsequente Fokussierung, grundlegender Respekt und klare Differenzierung.
Wir haben uns intensiv auf die Schaden- und Unfallversicherung (P&C) konzentriert, die sich grundlegend von der Lebens- oder Krankenversicherung unterscheidet. Anfang der 2000er Jahre glaubten nur wenige, dass Investitionen in ein branchenspezifisches zugeschnittenes Kernsystem ein lohnendes Risiko darstellen könnten. Aber wir haben die Komplexität von Unternehmenssoftware im Versicherungswesen verstanden – Systeme entwickeln sich über Jahrzehnte hinweg, im Gegensatz zu den schnellen Entwicklungs- und Austauschzyklen, die im Silicon Valley üblich sind.
Es war entscheidend, frühzeitig einen strategischen Rahmen zu definieren: Was wollten wir wie erreichen? Ebenso wichtig: was wollten wir bewusst nicht tun? Diese Klarheit war unerlässlich. Im Gegensatz zum Ansatz des Silicon Valley, ständig neue Wege zu beschreiten, hielten wir an unserer Richtung fest. Von Anfang an haben wir uns dazu verpflichtet, ein standardisiertes, aktualisierbares Softwareprodukt für P&C-Versicherer zu entwickeln. Das klingt erstmal selbstverständlich, war es aber nicht – insbesondere, wenn man große, komplexe Versicherer berücksichtigt.
Wir haben nur eine einzige größere strategische Änderung vorgenommen: den Übergang von On-Premise- zu Cloud-Lösungen. Anfang der 2000er Jahre war das natürlich keine realistische Option.
Wir haben Lebens- und Rentenversicherungen, sowie Unternehmen als Selbstversicherer für Arbeitsunfallversicherungen bewusst ausgeschlossen. Dennoch dachten wir zu einembestimmten Zeitpunkt, dass die Selbstversicherer integrierbar seien. Guidewire gewann auch mehrere Kunden von ihnen und wir waren begeistert von der Idee – aber es stellte sich heraus, dass dies ein Fehler war. Die Unterschiede der Selbstversicherer waren zu groß. Am Ende gaben wir jeden Dollar zurück und traten einen Schritt zurück, um uns neu zu orientieren. Das war emotional ein schwerer Moment, zumal der Vertrieb so schwierig war und jeder Dollar zählte. Umso mehr bin ich stolz darauf, wie wir mit der Situation umgegangen sind - insbesondere um 2005.
Wir haben immer ein klares Angebot aufrechterhalten – nicht auf Investoren ausgerichtet, sondern auf fundierter Marktanalyse beruhend. Wir haben viele Fehler gemacht, aber nicht diesen. Strategische Klarheit und ein einfaches, fokussiertes Angebot waren der Schlüssel zum Erfolg.
Zu dieser Zeit befand sich Silicon Valley mitten im Internet-Boom. Es herrschte eine weit verbreitete Begeisterung für eine magische Zukunft, die durch Technologie ermöglicht wurde – ähnlich wie wir es heute mit KI erleben. Aber die überzogenen Erwartungen und Überbewertung dieser Träume führte zu einem massiven Crash. Deshalb betone ich heute gegenüber Versicherungsunternehmen, dass ihre Geschäftstätigkeiten erheblich von KI profitieren können. Ihre Ambitionen sollten jedoch nicht die realistischen Möglichkeiten der Technologie übersteigen.
Zurück zu Guidewire: Unsere Unternehmenskultur unterschied sich stark von jender der Firmen aus der Boom-Ära. Wir waren sehr ehrgeizig, aber nicht in primär von persönlichem Reichtum oder Ego motiviert. Unser Ziel war es, hochwertige Software zu entwickeln und Seite an Seite mit großartigen Kollegen zu arbeiten, sowie reale Probleme in der Branche zu lösen.
Wir sagten den Leuten: Ihr werdet nicht reich werden, eure Eltern werden nicht verstehen, was ihr tut, und es wird harte Arbeit. Erstaunlicherweise hat das funktioniert. Die Gründer gingen mit gutem Beispiel voran – sie arbeiteten härter als alle anderen und lebten den Weg, den sie anderen anboten.
Es war auch eine Zeit, in der die Branche ein Produkt wie das unsere brauchte. Risikokapital war teuer und oft mit ungünstigen Bedingungen für Gründer und Mitarbeitende verbunden. Damals haben wir nicht viel darüber nachgedacht – aber heute sehe ich das mit anderen Augen.
Michał Trochimczuk:Welche Rolle spielten die Unternehmenskultur und die Denkweise der Gründer für den Erfolg von Guidewire?
Marcus Ryu: Wenn ich heute mit Gründern spreche, betone ich drei Dinge:
So ist Guidewire erfolgreich geworden, auch wenn der Weg dorthin lang war.
Der Aufbau dieses strategischen Rahmens erfolgte nicht sofort, aber wir hatten Klarheit über das Ziel. Uns war klar, dass wir zehnmal besser sein mussten, denn die Umstellung von Kernsystemen in der Versicherungsbranche ist sehr anspruchsvoll.
Ich habe die Vorstellung nie akzeptiert, dass Versicherer weniger innovativ sind als andere Unternehmen-Nachdem ich viel Zeit im Versicherungsgeschäft verbracht hatte, entwickelte ich großen Respekt für ihre Professionalität und Kompetenz. Allerdings sind viele Versicherungsunternehmen bürokratischer als nötig, was Innovationen ausbremsen kann.
Unternehmen wie Progressive, Geico und USAA bauten ihre eigenen Systeme auf und verschafften sich damit in den 1980er Jahren enorme Vorteile. Aber 2010 reichte das nicht mehr aus. Um sich von anderen abzuheben, war eine Arbeitsteilung erforderlich: Unternehmen mussten sich auf Alleinstellungsmerkmale konzentrierenund nicht darauf alle Systeme selbst aufzubauen.
Es wurde viel darüber diskutiert, ob Unternehmen auf maßgeschneiderte Frameworks wie React oder Angular setzen sollten oder für sie Standardlösungender richtige Weg waren. Bis 2010 war die Antwort klar: Standardisierung war der Weg in die Zukunft.
Unternehmen verlieren oft, wenn sie zu Extremen neigen. Man kann nicht von heute auf morgen von 100 % maßgeschneiderten Lösungen zu vollständig standardisierten Lösungen übergehen. Eine solche Umstellung erfordert Zeit und Sorgfalt.